New Business Doctor

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Wann Sie für potenzielle Neukunden die Hosen runter lassen sollen.

Urheber: Ilya Andriyanov for 123RF

Wer öfter mit Neugeschäft zu tun hat, kennt diese lästigen «Fragebögen». Gestern landete wieder mal so ein mehrseitiger Request for Information eines großen bayerischen Automobilbauers auf dem digitalen Schreibtisch des New Business Doctors. Man sucht einen neuen Agenturpartner für ein internes Kommunikationsprojekt und mein Klient, eine kleine, feine Münchener Agentur ist eingeladen, sich an einem Pitch zu beteiligen. Aber, was da auf unseren Schreibtischen landete, ist übergriffig und unverschämt. Wo nehmen die bloß diese Chuzpe her? Gegen die Abfrage wichtiger Agenturselektionskriterien ist ja grundsätzlich nichts einzuwenden (immerhin hat hat man sich darüber offensichtlich Gedanken gemacht), aber wie so oft, soll die Agentur nun schon mal komplett die Hosen runter lassen, was ihre finanzielle Situation und ihr Geschäftsmodell angeht: Umsatz, Gewinn, Margen, Gehaltsniveau, Konditionen für Freelancer, Umsatzbedeutung wichtiger anderer Auftraggeber, You name it! Will man solche Fragen beantworten? Muss man solche Fragen beantworten? Und hat man nicht alles Recht der Welt, dieser unverschämten Anfrage den Stinkefinger zu zeigen?

Was tun, wenn ein potenziell attraktiver Neukunde vorab Informationen verlangt, die ihn eigentlich gar nichts angehen? In diesem Beitrag möchte ich Ihnen Wege aufzeigen, die Offenlegung sensibler finanzieller Details zu vermeiden und trotzdem in die Shortlist attraktiver Neukunden zu gelangen.

Sollen wir das Spiel mitspielen?
Zunächst einmal die schlechte Nachricht: Neugeschäftsanfragen, die bereits früh ihren Fokus auf die finanzielle Seite der potenziellen Zusammenarbeit legen, sind ein untrügliches Anzeichen, dass nicht das Marketing, die sogenannte Fachabteilung den Pitch führt, sondern vermutlich der Einkauf. Und wo deren Entscheidungsfokus liegt, brauche ich hier nicht weiter auszuführen. Was immer Ihre Agentur hier einpreisen soll, wird dort offensichtlich als eine Commodity, letztlich austauschbare Dienstleistung angesehen und das finanziell attraktivste Angebot wird voraussichtlich gewinnen. Sollte Ihnen das Wasser nicht wirklich schon bis zum Hals stehen oder Ihr Geschäftsmodell nicht auf Dumpinghonoraren aufgebaut sein, steigen Sie hier aus!

Sollte die Frage nach Ihrem wirtschaftlichen Status allerdings erst später im Pitchprozess auftreten, ist dies ein untrügliches Zeichen, dass das Procurement erst eingeschaltet wird, wenn die Fachabteilung bereits potenzielle Kandidaten selektiert hat und von deren grundsätzlichem Potenzial als neuer Agenturpartner überzeugt ist. Man schätzt Ihre Agentur also als kompetenten, attraktiven potenziellen Partner (auch, wenn man das natürlich nie zugeben wird) und hat den Einkauf nun damit beauftragt, die finanziellen Konditionen im Vorfeld einer möglichen Zusammenarbeit zu eruieren.  Der Hebel, an dem Sie sitzen ist also länger, als Sie vielleicht denken. Darum, seien Sie mutig und sagen Sie erst einmal «Nein!». Bestimmt, aber höflich. In der WPP Welt nennt man das «principle of kind ruthlessness», also das Prinzip der höflichen Skrupellosigkeit.

Möge das Spiel beginnen!
In meinem Beitrag «Wie Sie Ihren nächsten Pitch umgehen und trotzdem gewinnen?» hatte ich Ihnen ja schon ein paar Tipps gegeben, wie Sie versuchen können, die Spielregeln eines Pitches auszuhebeln und sich damit in die Poolposition zu bringen. Hier noch einmal die wichtigsten Strategien:

1. Versuchen Sie einen Pitch komplett zu umgehen (und nur falls Ihnen das nicht gelingt:)

2. Verändern Sie die Pitchbedingungen zu Ihren Gunsten (und nur falls Ihnen das nicht gelingt:)

3. Ringen Sie ihrem potenziellen Kunden Zugeständnisse ab (und nur falls Ihnen das nicht gelingt:)

4. Versuchen Sie, sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen (und nur falls Ihnen das nicht gelingt:)

5 Steigen Sie aus!

Grundsätzlich – so meine Erfahrung und Überzeugung – sollten Sie sich nur an Pitches beteiligen bei denen Ihren Chancen besser als 1/n stehen. «n» steht hier für die Anzahl der am Pitch beteiligten Kandidaten. Der folgende Prozess hilft Ihnen dabei, besser einschätzen zu können, wie die Chancen für Ihre Agentur wirklich stehen. Gehen Sie ruhig immer davon aus, dass mindestens einer der andern Bewerber schon einen Wettbewerbsvorteil hat. Zum Beispiel eine persönliche Beziehung zu einem der wichtigen Entscheider. Falls das nicht Sie sind, ist es garantiert einer Ihrer Mitbewerber. Oder wie es Poker-Profi Mike McDermott alias Matt Damon in «Rounders» so trefflich formuliert: «Listen, here's the thing. If you can't spot the sucker [...] at the table, then you ARE the sucker.».

Hier ist mein bewährter Stufenplan, um herauszufinden, wie gut die Chancen für Ihre Agentur wirklich stehen:

1. Greifen Sie zum Telefon!
Telefonieren ist das Erste, was Sie tun, selbst wenn die Ausschreibungsunterlagen es explizit verbieten. Entschuldigen Sie sich nicht. Ignorieren Sie die Anweisung einfach. Wer einen Pitch ausschreibt und den Kandidaten einen Haufen Arbeit aufhalst, sollte sich im Gegenzug auch die Zeit nehmen, berechtigte Fragen am Telefon zu beantworten. Versuchen Sie einen Entscheidungsträger ans Telefon zu bekommen. Lassen Sie sich nicht mit irgendeinem Gatekeeper oder Assistenten abspeisen. Falls die Anfrage beziehungsweise der RFI direkt aus dem Procurement kam und sich kein Entscheidungsträger aus der Marketingabteilung Zeit für Sie nehmen will, könnte das ein Zeichen dafür sein, dass Ihre Agentur vom Einkauf lediglich als «Auffüllkandidat» in den Bieterkreis aufgenommen wurde, um Vergleichsangebote zu bekommen und den oder die präferierten Kandidaten damit später finanziell unter Druck setzen zu können. In diesem Fall sollten Sie ernsthaft erwägen, bereits jetzt auszusteigen.

2. Warum gerade wir?
Und wenn Sie einen Entscheider am Telefon haben, fragen Sie unverblümt, warum man gerade Ihre Agentur auf die Longlist gesetzt hat. Aus den Antworten können Sie wertvolle Erkenntnisse unter anderem darüber gewinnen, wer Sie empfohlen hat, wie man Sie positioniert und – das Wichtigste – welchen Stellenwert Ihre Agentur im Pitch hat beziehungsweise wie begehrlich eine Zusammenarbeit mit Ihrer Agentur für den Auftraggeber ist. Genau wie Stufe 1, eigentlich Standardvorgehensweise bei allen RFIs.

3. Eigentlich nicht.
Sagen Sie: «Normalerweise beteiligen wir uns nicht an schriftlichen Ausschreibungen beziehungsweise beantworten wir keine generellen Informationsabfragen.» und machen Sie eine lange Pause. Was jetzt als Antwort kommt wird Ihnen wichtige Hinweise darauf liefern, welchen Stellenwert Ihre Agentur in diesem Pitch für den potenziellen Auftraggeber hat. Wichtig ist das Wort «Normalerweise», signalisiert es dem Gegenüber doch zumindest die Möglichkeit, dass einen Weg gibt, zusammenzukommen.

4. Nicht mit uns.
Und wenn Sie schon gerade einen guten Lauf haben, zünden Sie Stufe 2 und legen Sie alle Fragen aus dem RFI auf dem Tisch, bei deren Beantwortung Sie Bauchschmerzen haben: «Sie fragen hier unter anderem nach wichtigen Kennzahlen aus unserem Jahresabschluss. Als GmbH veröffentlichen wir grundsätzlich keine Bilanzzahlen. Aber wenn Sie mir verraten, was genau der Hintergrund Ihres Interesse ist, bin ich sicher, dass wir Ihnen eine andere hilfreiche Auskunft geben können.» Wieder sagen Sie «Nein!» ohne die Tür zuzuschlagen. Und mehr als einmal habe ich an dieser Stelle Verständnis geerntet und gehört, dass man in der Marketingabteilung eigentlich auch nicht wisse, warum das Procurement diese Zahlen brauche, man irgendeine Standardabfrage vermute und die Offenlegung unternehmensinterner Zahlen auch nicht zur Bedingung unbedingt machen wolle.

5. Worum geht's denn wirklich?
So, jetzt haben Sie einen echten Dialog zwischen zwei Menschen, die etwas von einader wollen und können herausfinden, was den Entscheider wirklich umtreibt und interessiert, welche wirklich relevanten Fragen es für ihn zu beantworten gilt, um seine Shortlist mit potenziellen neuen Agenturpartnern zusammen stellen zu können.

Berechtigte Frage #1: Relative Bedeutung des Mandats in der Agentur.
Der Kunde möchte einschätzen können, welche relative Bedeutung sein Geschäft innerhalb der Agentur hätte. Die wenigsten Werbungtreibenden möchten weder, dass ihre Agenturpartner komplett wirtschaftlich von ihnen abhängig sind noch dort ein unbedeutender relativ kleiner Kunde sein. Deswegen ist diese Frage zulässig. Letztlich haben Sie als Agentur ja ähnliche Bedenken. Auch Sie wollen ja am liebsten einen neuen Kunden, der perfekt in Ihr Portfolio passt, also mindestens 10 und maximal 33 Prozent Ihres Jahreseinkommens repräsentiert. (Mehr über die perfekte Größe einzelner Kunden im Portefolio einer Agentur erfahren Sie in meinem Beitrag: «When size matters – Das perfekte Kundenportfolio für Agenturen.».

Die relative Umsatzbedeutung des neuen, potenziellen Kunden für die potenzielle Agentur ist also für beide Seite von hoher Relevanz und sollte deswegen (und hier kommt der Schock für den potenziellen Auftraggeber:) GEGENSEITIG beantwortet werden. Bedeutet: Sie geben dem Unternehmen eine anonymisierte Aufstellung Ihrer Kunden/Umsatzcluster und erhalten im Gegenzug eine realistische Angabe zum voraussichtlichen Budget. Sollte das ausschreibende Unternehmen Ihrer Umsatzaufstellung nicht trauen, ist das ohnehin keine gute Voraussetzung für eine künftige Partnerschaft, oder? Sagen Sie das auch ruhig so!

Berechtigte Frage #2: Solidität und Beständigkeit.
Der potenzielle Auftraggeber ist an einer langfristigen Partnerschaft interessiert. Gut! Und ihm stellt sich deswegen die legitime Frage nach dem finanziellen Erfolg und der wirtschaftlichen Stabilität potenzieller Agenturpartner. Auch hier lässt sich die geforderte Herausgabe von Bilanzen umgehen, indem man dem Brücken baut. So könnte die Information, dass man bereits seit über 20 Jahren vergleichbare Projekte für andere DAX Unternehmen realisiert, hilfreich sein. Eine Kundenstatistik nach Dauer der Zusammenarbeit auch. Auch könnten entsprechende Referenzschreiben von langjährigen Kunden oder Ihrer Bank den potenziellen neuen Auftraggeber beruhigen. Finden Sie alternative Wege die Stabilität Ihrer Agentur unter Beweis zu stellen, als die im RFI geforderte Offenlegung Ihrer Bilanzen. Gehen Sie davon aus, dass nicht alles, was der Einkauf im RFI abfragt auch bindend ist. Oder fragen Sie Ihren Ansprechpartner frei weg: «Ich muss Sie das fragen: Wenn Sie unsere Solidität ernsthaft infrage stellen und offensichtlich damit rechnen, dass unsere Agentur die Laufzeit Ihres Projekts nicht überleben könnte, warum haben Sie uns dann überhaupt auf Ihre Longlist gesetzt?».

Absolut unzulässige Frage #3: Kalkulationsstrategie und Spannen.
Möglich ist aber auch, dass der Einkauf des potenziellen Neukunden mit den investigativen Fragen nach Ihren Zahlen einfach nur Einfluss auf die Gewinnspanne Ihrer Agentur nehmen möchte. Dann könnten Sie wie folgt reagieren. «Es sollte in unserem gemeinsamen Interesse liegen, dass unsere Zusammenarbeit profitabel für die Agentur ist. Wie profitabel, sollten Sie unsere Sorge sein lassen. Ich kann Ihnen aber garantieren, dass unsere langjährigen Kunden nicht immer noch mit uns arbeiten würden, wenn der Return-On-Investment nicht attraktiv wäre.»

Falls Ihr siebenter Sinn Ihnen signalisiert, dass Sie es hier mit einem Schnäppchenjäger zu tun haben, sollten Sie dies direkt ansprechen: «Da der Schwerpunkt Ihres RFI offensichtlich auf den finanziellen und nicht auf den qualitativen, inhaltlichen Fragen liegt, fürchte ich fast, dass Sie einfach dem billigsten Anbieter den Zuschlag geben. Deswegen möchte ich Ihnen jetzt gleich sagen, das wir mit unseren qualitativ hochwertigen Leistungen erfahrungsgemäß nie der günstigste Anbieter sind.». Und wieder machen Sie eine lange Pause und warten darauf, dass sich ihr Gegenüber selbst entlarvt.

Die beiden ersten, durchaus berechtigten Fragen lassen sich also leicht ausräumen, auch ohne die Hosen runter lassen zu müssen, was die Bilanzen angeht. Die beiden letzteren, unverschämten Fragen sollten Sie direkt und frühzeitig ansprechen, bevor Sie höflich und dankend ablehnen und es schadenfreudig Ihren Mitbewerbern überlassen, die Dummen zu sein. Manchmal ist das fast so befriedigend, wie ein Pitch-Gewinn.

Zusammengefasst.
Niemals, wirklich niemals dürfen Sie sich in die Bücher schauen lassen von potenziellen Neukunden und deren Einkäufern. Das wäre genau so dumm, als würden Sie in einem Degenfechtkampf der Bitte Ihres Kombattanten stattgeben, ihm mal Ihr Florett auszuhändigen. Händigen Sie dem Einkauf niemals die Informationen aus, die er oder sie später gegen Sie einsetzen könnte. Und sei es nur, um Ihren Preis zu drücken und Ihre Profitabilität zu gefährden. Getreu dem Motto: «Mann kann's ja mal versuchen.» werden Einkäufer immer dreister und lachen sich einen Ast, wenn Agenturen der unverfrorenen Bitte servil nachkommen.

Versuchen Sie stattdessen zu verstehen, welche relevanten Bedenken und Fragestellungen die wahren Entscheider wohl umtreiben und suchen Sie nach alternativen Möglichkeiten, Antworten und Beweise für Ihre Kompetenz, Erfahrung, Solidität, den Erfolg und die Beständigkeit Ihrer Agentur zu liefern. Bleiben Sie selbstbewusst und weisen Sie dreiste Anfragen höflich aber bestimmt ab. Pitches sind ein Spiel. Gewinnen oder verlieren Sie, aber bleiben Sie stolz und haben Sie Spaß dabei.


Mehr rund um das Thema Ausschreibungen und Pitchvermeidung beziehungsweise -umgehung auch hier in meinen Beiträgen:


«Was bedeuten eigentlich die gängigen Abkürzungen im Rahmen von Ausschreibungen?»

«Warum Sie bloß nicht jeden Request-for-Proposal beantworten sollten.»

«Finger weg von Spec Work!»

«Wie Sie Ihren nächsten Pitch umgehen und trotzdem gewinnen?»

«Besser-Pitchen (1) – Warum es Zeit wird, für ressourcenschonendere Pitch-Alternativen.»

«Besser-Pitchen (3):Warum kein Pitch manchmal der bessere Pitch ist.»